Der unsichtbare Begleiter
Es war einmal ein kleiner Junge namens Lian, der in einem lebhaften Dorf am Fuß eines grünen Hügels lebte. Lian war voller Energie und Neugier, und wo immer er hinging, schien ein stilles, goldenes Licht um ihn herumzutanzen. Doch niemand außer Lian konnte dieses Licht sehen.
Eines sonnigen Nachmittags spielte Lian mit seinem roten Ball neben der staubigen Dorfstraße. Seine Mutter, die gerade Wäsche aufhing, rief ihm zu: „Bleib in der Nähe, Lian!“ Aber der Ball hatte wohl seinen eigenen Kopf, wie es schien, und rollte plötzlich quer über die Straße. Ohne nachzudenken, lief Lian ihm hinterher.
Genau in diesem Moment kam ein großes Motorrad mit lautem Motorengeräusch in der Straße auf Lian zugefahren. Die Dorfbewohner, die das Ganze beobachteten, hielten den Atem an. Die Zeit schien stillzustehen.
Doch gerade, als das Motorrad Lian fast erreicht hatte, schien es, als würde ihn eine unsichtbare Hand sanft zur Seite schieben. Das Motorrad fuhr an ihm vorbei, ohne ihn auch nur zu berühren.
Lians Mutter, die ja ganz in der Nähe gestanden hatte, rannte sogleich zu ihm und umarmte ihn zitternd.
„Oh Lian, du hast einen Schutzengel!“, rief sie völlig aufgewühlt aus und drückte ihn fest an sich. Lian selbst, der noch gar nicht verstanden hatte, was da gerade mit ihm geschehen war, blickte nach oben und sah, wie ein goldenes Licht über ihm tanzte. Es war sein unsichtbarer Begleiter, von dem er schon immer gespürt hatte, dass er immer da war.
Später am gleichen Tag setzte sich König Valentinus in den Schatten einer alten Eiche im Dorf, um mit der Mutter und dem Kind zu sprechen.
Die Mutter erzählte ihm von dem Wunder und sagte: „Kinder haben wirklich einen Schutzengel, mein König. Ich habe es heute mit eigenen Augen gesehen.“
Valentinus lächelte sanft. „Vielleicht hat jedes Kind tatsächlich einen Engel, der es beschützt“, sagte er nachdenklich. „Aber manchmal sind diese Engel auch die Stimmen in den Herzen der Kinder, die sie vor Gefahren warnen. Oder die Liebe ihrer Eltern, die wie ein unsichtbarer Schild um sie liegt.“
Von diesem Tag an erzählte man sich im Dorf, dass König Valentinus die Gabe habe, Schutzengel sehen zu können. Und obwohl er selbst nie gesagt hatte, ob das tatsächlich wahr sei, brachte er den Menschen bei, auf das Licht in sich und in anderen zu vertrauen. „Denn“, so sagte er, „das größte Wunder ist nicht nur der Schutz von oben, sondern die Liebe, die wir uns hier auf der Erde einander schenken.“
Und Lian? Er spielte weiterhin mit seinem Ball, doch von diesem Tag an hörte er immer genau hin, wenn das goldene Licht in seinem Herzen flüsterte: „Sei achtsam, kleiner Freund.“
Die vergessenen Schutzengel
König Valentinus, der einst als Kind einfach die ganze Schöpfung zu seinen Schutzengeln auserkoren hatte, erzählte den Menschen in seinem Königreich oft seine eigene Geschichte.
Doch eines Tages fragte ihn ein junger Mann, der offensichtlich Zweifel in den Augen hatte: „Mein König, wie kann es sein, dass du die Welt voller Schutzengel siehst, während wir oft nur Gefahr und Einsamkeit erleben?
Liegt es vielleicht an uns?
Haben wir die Fähigkeit verloren, die Engel zu erkennen?“
Valentinus sah den Mann lange an. Dann lächelte er sanft und sagte:
„Vielleicht liegt es daran, dass wir verlernt haben, mit offenen Augen und Herzen zu sehen.
Als Kinder nahmen wir einst die Welt ohne Vorurteile wahr.
Ein Baum ist nicht einfach nur ein Baum, sondern ein Spielgefährte, ein Freund, der uns Schatten spendet und vieles mehr. Der Wind ist nicht nur Luft, sondern kann eine Stimme sein, die zu uns flüstert.
Doch mit der Zeit haben wir verlernt, diese Dinge zu sehen – weil wir glaubten zu wissen.
Deshalb begannen wir, allen möglichen Erscheinungen um uns herum rein vernunftgemäß betrachtet einen besonderen oder auch geringeren Wert beizumessen. Doch alles, was uns umgibt, hat eben nur die Bedeutung, die wir ihm geben.
Damit tun wir allen Urkräften Unrecht, ohne es zu bemerken und wundern uns dann, dass sie uns ihren Schutz nicht mehr geben können. Wir haben ihnen ihre von uns als wertlos beurteilte Natürlichkeit genommen, als hätte sie keine Bedeutung mehr für uns.“
Er lud den jungen Mann ein, mit ihm in den Schlossgarten zu gehen. Dort setzte sich Valentinus unter seine alte Eiche und sagte:
„Schließe deine Augen. Höre den Wind, fühle die Erde unter dir, spüre den Duft der Wiese und der Blumen. Sie sind alle da, um dir zu dienen, was auch eine Hilfe für dich bedeutet – doch du musst ihnen zuzuhören lernen.“
Der junge Mann tat, wie der König gesagt hatte, und plötzlich spürte er eine Wärme in seiner Brust, die er lange nicht mehr gefühlt hatte.
Er öffnete die Augen und sah den Garten nun mit ganz anderen Blicken. Die Eiche wirkte, als würde sie ihn sanft umarmen, die Vögel schienen für ihn zu singen, und selbst die kleinen Blumen am Wegesrand schienen ihm zuzuwinken.
„Ich sehe es, mein König“, flüsterte der junge Mann. „Sie sind wirklich da. Aber warum habe ich sie so lange nicht bemerkt?“
„Weil wir Menschen uns oft in unserer Angst und Hektik verlieren“, erklärte Valentinus.
„Wir denken, wir müssen alles allein schaffen glauben auch fest, dass niemand uns hilft.
Doch die Wahrheit ist: Die ganze Schöpfung steht bereit, uns zu unterstützen – wenn wir sie nur lassen. Wenn wir aufhören, gegen sie zu sein, sie einfach das sein lassen, was sie ist und wenn wir beginnen, ihr zu vertrauen.“
An diesem Tag begann der junge Mann zu leben, wie es ihm Valentinus erklärt hatte. Er sprach mit den Bäumen, dankte dem Regen und hörte auf die vielen Zeichen, die die Welt um ihn herum zu bieten hatte. Und bald bemerkte er, dass das Leben weniger beängstigend war, als er bisher gedacht hatte. Es war, als hätten sich unzählige Helfer um ihn geschart – Schutzengel, die tatsächlich schon immer da gewesen waren.
Valentinus lehrte die Menschen, dass uns die Fülle der Welt stets begleitet.
Doch er betonte auch: „Es liegt an uns, die Augen zu öffnen und diese Fülle zu erkennen. Unsere Schutzengel sind da – nicht, um uns die Arbeit abzunehmen, sondern um uns zu stärken, den richtigen Weg zu finden.“
Und so lebten die Menschen in seinem Königreich von diesem Tag an mit mehr Vertrauen und viel weniger Angst.
Sie erkannten, dass sie niemals wirklich allein waren und dass die ganze Schöpfung ihr Verbündeter war.
Die Engel hinter dem Schleier
Valentinus, der kluge König, saß eines Abends am Feuer und sprach zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die zu ihm gekommen waren, um seine Geschichten zu hören.
„Ihr wisst“, begann er, „die Welt ist voller Engel, die uns helfen wollen. Doch warum sehen wir sie so selten?
Warum nehmen wir ihre warnenden Hinweise und ihre Unterstützung nicht an?“
Die Menschen blickten ihn erwartungsvoll an und Valentinus fuhr fort:
„Es ist unser Verstand, der uns daran hindert. Er glaubt, alles zu wissen und alles besser zu verstehen als die Natur. Und doch bringt sie Wunder hervor.
In seinem Bedürfnis, alles zu beurteilen, stellt sich unser Verstand zwischen uns und die bestehende Wahrheit in der Natur. Er will sehen, was er sehen will und nicht, was wirklich um ihn herum geschieht.“
Valentinus erzählte eine Geschichte:
„Stellt euch vor, ihr geht durch einen Wald. Die Bäume stehen da, hoch und majestätisch, ihre Äste strecken sich wie Arme aus, bereit, euch Schutz zu bieten.
Der Wind flüstert euch Warnungen zu, wenn ein Sturm naht, und die Vögel singen Lieder, die euch den Weg weisen oder euch vor drohender Gefahr warnen wollen. Doch anstatt hinzuhören, sagt uns unser Verstand:
‚Das ist nur ein Baum, der Wind ist nur Luft und die Vögel singen für sich, nicht für mich.‘
Und so hört ihr die Botschaften nicht, die überall um euch herum erklingen.
Alle sogenannten „primitiven Urvölker“ hören noch heute auf die Natur, erkennen ihre mannigfaltigen Zeichen und Muster, ansonsten würden sie keinen Tag im Urwald überleben.
Dort dient immer noch jedes Lebewesen dem anderen, um in der Gesamtheit zu überleben.“
Ein alter Mann in der Runde fragte: „Aber warum tut der Verstand das, mein König? Warum will er uns von diesen Helfern trennen?“
Valentinus lächelte verständnisvoll.
„Weil er Angst hat abhängig zu sein. Der Verstand der Erwachsenen fürchtet das Unbekannte, das nicht Messbare.
Er denkt, er müsse auf alles eine Antwort parat haben, dann erst wäre er klug. Ein ‚Ich weiß es nicht‘ bringt er kaum über die Lippen.
Deshalb will er die Kontrolle über alles haben, was er sieht, und genau diese Kontrolle gibt ihm dann ein Gefühl von Sicherheit.
Doch in Wahrheit führt ihn diese Haltung in die Einsamkeit. Der Mensch wird getrennt von einer lebendigen Verbindung zur Schöpfung und fühlt sich folglich umso mehr allein.“
Eine Frau fragte: „Wie können wir den Verstand überwinden und die Engel hinter den Erscheinungen sehen?“
Der König dachte einen Moment nach, dann sprach er:
„Ihr müsst den Verstand nicht überwinden oder bekämpfen! Ladet ihn ein, einfach einmal still zu werden.
Wenn ihr aufhört, ständig alles in der Natur bewerten zu wollen, dann werdet ihr erkennen, die Natur bewertet euch nicht.
Sie lässt euch alle Kinder ein und derselben Schöpfung sein.
Öffnet einfach wieder euer Herz.
Mit einem offenen Herzen werdet ihr die Welt immer wieder neu und anders sehen.
Euer Wissen wird einem Staunen über alles Schöne weichen. Staunen geschieht still und in ehrfurchtvoller Betrachtung.
Euer Herz wird froh wie das unbeschwerte Kind in dir.
Plötzlich ist der Baum nicht mehr nur ein Baum, sondern ein Wesen voller Weisheit. Der Wind ist nicht mehr nur Luft, sondern ein sanfter Führer. Alles um euch herum wird lebendig und freundlich.“
Er machte eine Pause und fügte hinzu: „Es ist, als würdet ihr einen Schleier lüften.
Die Engel waren nie verschwunden – ihr habt nur aufgehört, sie zu sehen, weil ihr nicht mehr an sie glaubt.“
Die Menschen waren still und nachdenklich. Schließlich sagte ein junger Mann: „Vielleicht haben wir zu viel mit unserem Kopf und zu wenig mit unserem Herzen gelebt.“
Valentinus konnte ihm nicht widersprechen und nickte.
„Das Herz ist der Schlüssel. Glaube daran, dass die Schöpfung dir dienen und helfen will. Vertraue darauf, dass alles, was dir begegnet – ob Baum, Tier oder Mensch – eine Botschaft für dich in sich trägt.
Wenn du dieses Vertrauen in dir wachsen lässt, wirst du bemerken, dass du niemals allein bist. Warte nicht immer nur, bis die Natur zu dir spricht, sondern beginne du mit ihr zu sprechen.“
In dieser Nacht gingen die Menschen mit neuen Gedanken nach Hause. Sie beschlossen, die Welt mit weniger Vorurteilen und wieder mehr mit Offenheit zu betrachten. Nach und nach begannen sie, wieder die Engel hinter den Erscheinungen zu erkennen. Sie erkannten, dass sogar ihre eigenen ungetrübten Gedanken ihre Schutzengel sein konnten, die nicht irgendwelches Unheil herbeizuführen suchten, sondern stattdessen die Freude an der Schöpfung mit sich bringen würden.
Botschaft des Märchens
Valentinus will uns zeigen, dass uns die gesamte Schöpfung dienen möchte – nicht aus Unterwürfigkeit, sondern aus Liebe und Verbundenheit.
Doch wenn unser Verstand ständig analysiert und bewertet, trennen wir uns selbst von dieser großen Wahrheit.
Wenn wir lernen, still zu werden und mit dem Herzen zu sehen, öffnet sich ein neues Bewusstsein. Wir erkennen, dass alles in der Welt miteinander verbunden ist und dass wir in dieser Verbundenheit immer beschützt und getragen werden.
Nicht zu vergessen: jeder von uns kann für den anderen ein Schutzengel sein. Mit einem frohen Wort, einem anerkennenden Blick oder einem respektvollen Gruß, der keine bloße Höflichkeit darstellt, sondern dem eigenen Herzen entspringt.