Schutzengel

Der unsichtbare Begleiter

Es war einmal ein kleiner Junge namens Lian, der in einem lebhaften Dorf am Fuß eines grünen Hügels lebte. Lian war voller Energie und Neugier, und wo immer er hinging, schien ein stilles, goldenes Licht um ihn herumzutanzen. Doch niemand außer Lian konnte dieses Licht sehen.

Eines sonnigen Nachmittags spielte Lian mit seinem roten Ball neben der staubigen Dorfstraße. Seine Mutter, die gerade Wäsche aufhing, rief ihm zu: „Bleib in der Nähe, Lian!“ Aber der Ball hatte wohl seinen eigenen Kopf, wie es schien, und rollte plötzlich quer über die Straße. Ohne nachzudenken, lief Lian ihm hinterher.

Genau in diesem Moment kam ein großes Motorrad mit lautem Motorengeräusch in der Straße auf Lian zugefahren. Die Dorfbewohner, die das Ganze beobachteten, hielten den Atem an. Die Zeit schien stillzustehen.
Doch gerade, als das Motorrad Lian fast erreicht hatte, schien es, als würde ihn eine unsichtbare Hand sanft zur Seite schieben. Das Motorrad fuhr an ihm vorbei, ohne ihn auch nur zu berühren.

Lians Mutter, die ja ganz in der Nähe gestanden hatte, rannte sogleich zu ihm und umarmte ihn zitternd.
„Oh Lian, du hast einen Schutzengel!“, rief sie völlig aufgewühlt aus und drückte ihn fest an sich. Lian selbst, der noch gar nicht verstanden hatte, was da gerade mit ihm geschehen war, blickte nach oben und sah, wie ein goldenes Licht über ihm tanzte. Es war sein unsichtbarer Begleiter, von dem er schon immer gespürt hatte, dass er immer da war.

Später am gleichen Tag setzte sich König Valentinus in den Schatten einer alten Eiche im Dorf, um mit der Mutter und dem Kind zu sprechen.
Die Mutter erzählte ihm von dem Wunder und sagte: „Kinder haben wirklich einen Schutzengel, mein König. Ich habe es heute mit eigenen Augen gesehen.“
Valentinus lächelte sanft. „Vielleicht hat jedes Kind tatsächlich einen Engel, der es beschützt“, sagte er nachdenklich. „Aber manchmal sind diese Engel auch die Stimmen in den Herzen der Kinder, die sie vor Gefahren warnen. Oder die Liebe ihrer Eltern, die wie ein unsichtbarer Schild um sie liegt.“

Von diesem Tag an erzählte man sich im Dorf, dass König Valentinus die Gabe habe, Schutzengel sehen zu können. Und obwohl er selbst nie gesagt hatte, ob das tatsächlich wahr sei, brachte er den Menschen bei, auf das Licht in sich und in anderen zu vertrauen. „Denn“, so sagte er, „das größte Wunder ist nicht nur der Schutz von oben, sondern die Liebe, die wir uns hier auf der Erde einander schenken.“

Und Lian? Er spielte weiterhin mit seinem Ball, doch von diesem Tag an hörte er immer genau hin, wenn das goldene Licht in seinem Herzen flüsterte: „Sei achtsam, kleiner Freund.“

Die vergessenen Schutzengel

König Valentinus, der einst als Kind einfach die ganze Schöpfung zu seinen Schutzengeln auserkoren hatte, erzählte den Menschen in seinem Königreich oft seine eigene Geschichte.

Doch eines Tages fragte ihn ein junger Mann, der offensichtlich Zweifel in den Augen hatte: „Mein König, wie kann es sein, dass du die Welt voller Schutzengel siehst, während wir oft nur Gefahr und Einsamkeit erleben?
Liegt es vielleicht an uns?
Haben wir die Fähigkeit verloren, die Engel zu erkennen?“
Valentinus sah den Mann lange an. Dann lächelte er sanft und sagte:
„Vielleicht liegt es daran, dass wir verlernt haben, mit offenen Augen und Herzen zu sehen.
Als Kinder nahmen wir einst die Welt ohne Vorurteile wahr.
Ein Baum ist nicht einfach nur ein Baum, sondern ein Spielgefährte, ein Freund, der uns Schatten spendet und vieles mehr. Der Wind ist nicht nur Luft, sondern kann eine Stimme sein, die zu uns flüstert.

Doch mit der Zeit haben wir verlernt, diese Dinge zu sehen – weil wir glaubten zu wissen.
Deshalb begannen wir, allen möglichen Erscheinungen um uns herum rein vernunftgemäß betrachtet einen besonderen oder auch geringeren Wert beizumessen. Doch alles, was uns umgibt, hat eben nur die Bedeutung, die wir ihm geben.
Damit tun wir allen Urkräften Unrecht, ohne es zu bemerken und wundern uns dann, dass sie uns ihren Schutz nicht mehr geben können. Wir haben ihnen ihre von uns als wertlos beurteilte Natürlichkeit genommen, als hätte sie keine Bedeutung mehr für uns.“

Er lud den jungen Mann ein, mit ihm in den Schlossgarten zu gehen. Dort setzte sich Valentinus unter seine alte Eiche und sagte:
„Schließe deine Augen. Höre den Wind, fühle die Erde unter dir, spüre den Duft der Wiese und der Blumen. Sie sind alle da, um dir zu dienen, was auch eine Hilfe für dich bedeutet – doch du musst ihnen zuzuhören lernen.“
Der junge Mann tat, wie der König gesagt hatte, und plötzlich spürte er eine Wärme in seiner Brust, die er lange nicht mehr gefühlt hatte.
Er öffnete die Augen und sah den Garten nun mit ganz anderen Blicken. Die Eiche wirkte, als würde sie ihn sanft umarmen, die Vögel schienen für ihn zu singen, und selbst die kleinen Blumen am Wegesrand schienen ihm zuzuwinken.

„Ich sehe es, mein König“, flüsterte der junge Mann. „Sie sind wirklich da. Aber warum habe ich sie so lange nicht bemerkt?“
„Weil wir Menschen uns oft in unserer Angst und Hektik verlieren“, erklärte Valentinus.
„Wir denken, wir müssen alles allein schaffen glauben auch fest, dass niemand uns hilft.
Doch die Wahrheit ist: Die ganze Schöpfung steht bereit, uns zu unterstützen – wenn wir sie nur lassen. Wenn wir aufhören, gegen sie zu sein, sie einfach das sein lassen, was sie ist und wenn wir beginnen, ihr zu vertrauen.“

An diesem Tag begann der junge Mann zu leben, wie es ihm Valentinus erklärt hatte. Er sprach mit den Bäumen, dankte dem Regen und hörte auf die vielen Zeichen, die die Welt um ihn herum zu bieten hatte. Und bald bemerkte er, dass das Leben weniger beängstigend war, als er bisher gedacht hatte. Es war, als hätten sich unzählige Helfer um ihn geschart – Schutzengel, die tatsächlich schon immer da gewesen waren.

Valentinus lehrte die Menschen, dass uns die Fülle der Welt stets begleitet.
Doch er betonte auch: „Es liegt an uns, die Augen zu öffnen und diese Fülle zu erkennen. Unsere Schutzengel sind da – nicht, um uns die Arbeit abzunehmen, sondern um uns zu stärken, den richtigen Weg zu finden.“

Und so lebten die Menschen in seinem Königreich von diesem Tag an mit mehr Vertrauen und viel weniger Angst.
Sie erkannten, dass sie niemals wirklich allein waren und dass die ganze Schöpfung ihr Verbündeter war.

Die Engel hinter dem Schleier

Valentinus, der kluge König, saß eines Abends am Feuer und sprach zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die zu ihm gekommen waren, um seine Geschichten zu hören.
„Ihr wisst“, begann er, „die Welt ist voller Engel, die uns helfen wollen. Doch warum sehen wir sie so selten?
Warum nehmen wir ihre warnenden Hinweise und ihre Unterstützung nicht an?“

Die Menschen blickten ihn erwartungsvoll an und Valentinus fuhr fort:
„Es ist unser Verstand, der uns daran hindert. Er glaubt, alles zu wissen und alles besser zu verstehen als die Natur. Und doch bringt sie Wunder hervor.
In seinem Bedürfnis, alles zu beurteilen, stellt sich unser Verstand zwischen uns und die bestehende Wahrheit in der Natur. Er will sehen, was er sehen will und nicht, was wirklich um ihn herum geschieht.“

Valentinus erzählte eine Geschichte:
„Stellt euch vor, ihr geht durch einen Wald. Die Bäume stehen da, hoch und majestätisch, ihre Äste strecken sich wie Arme aus, bereit, euch Schutz zu bieten.
Der Wind flüstert euch Warnungen zu, wenn ein Sturm naht, und die Vögel singen Lieder, die euch den Weg weisen oder euch vor drohender Gefahr warnen wollen. Doch anstatt hinzuhören, sagt uns unser Verstand:
‚Das ist nur ein Baum, der Wind ist nur Luft und die Vögel singen für sich, nicht für mich.‘
Und so hört ihr die Botschaften nicht, die überall um euch herum erklingen.
Alle sogenannten „primitiven Urvölker“ hören noch heute auf die Natur, erkennen ihre mannigfaltigen Zeichen und Muster, ansonsten würden sie keinen Tag im Urwald überleben.
Dort dient immer noch jedes Lebewesen dem anderen, um in der Gesamtheit zu überleben.“

Ein alter Mann in der Runde fragte: „Aber warum tut der Verstand das, mein König? Warum will er uns von diesen Helfern trennen?“
Valentinus lächelte verständnisvoll.
„Weil er Angst hat abhängig zu sein. Der Verstand der Erwachsenen fürchtet das Unbekannte, das nicht Messbare.
Er denkt, er müsse auf alles eine Antwort parat haben, dann erst wäre er klug. Ein ‚Ich weiß es nicht‘ bringt er kaum über die Lippen.
Deshalb will er die Kontrolle über alles haben, was er sieht, und genau diese Kontrolle gibt ihm dann ein Gefühl von Sicherheit.
Doch in Wahrheit führt ihn diese Haltung in die Einsamkeit. Der Mensch wird getrennt von einer lebendigen Verbindung zur Schöpfung und fühlt sich folglich umso mehr allein.“

Eine Frau fragte: „Wie können wir den Verstand überwinden und die Engel hinter den Erscheinungen sehen?“
Der König dachte einen Moment nach, dann sprach er:
„Ihr müsst den Verstand nicht überwinden oder bekämpfen! Ladet ihn ein, einfach einmal still zu werden.
Wenn ihr aufhört, ständig alles in der Natur bewerten zu wollen, dann werdet ihr erkennen, die Natur bewertet euch nicht.
Sie lässt euch alle Kinder ein und derselben Schöpfung sein.
Öffnet einfach wieder euer Herz.

Mit einem offenen Herzen werdet ihr die Welt immer wieder neu und anders sehen.
Euer Wissen wird einem Staunen über alles Schöne weichen. Staunen geschieht still und in ehrfurchtvoller Betrachtung.
Euer Herz wird froh wie das unbeschwerte Kind in dir.
Plötzlich ist der Baum nicht mehr nur ein Baum, sondern ein Wesen voller Weisheit. Der Wind ist nicht mehr nur Luft, sondern ein sanfter Führer. Alles um euch herum wird lebendig und freundlich.“

Er machte eine Pause und fügte hinzu: „Es ist, als würdet ihr einen Schleier lüften.
Die Engel waren nie verschwunden – ihr habt nur aufgehört, sie zu sehen, weil ihr nicht mehr an sie glaubt.“

Die Menschen waren still und nachdenklich. Schließlich sagte ein junger Mann: „Vielleicht haben wir zu viel mit unserem Kopf und zu wenig mit unserem Herzen gelebt.“
Valentinus konnte ihm nicht widersprechen und nickte.
„Das Herz ist der Schlüssel. Glaube daran, dass die Schöpfung dir dienen und helfen will. Vertraue darauf, dass alles, was dir begegnet – ob Baum, Tier oder Mensch – eine Botschaft für dich in sich trägt.
Wenn du dieses Vertrauen in dir wachsen lässt, wirst du bemerken, dass du niemals allein bist. Warte nicht immer nur, bis die Natur zu dir spricht, sondern beginne du mit ihr zu sprechen.“

In dieser Nacht gingen die Menschen mit neuen Gedanken nach Hause. Sie beschlossen, die Welt mit weniger Vorurteilen und wieder mehr mit Offenheit zu betrachten. Nach und nach begannen sie, wieder die Engel hinter den Erscheinungen zu erkennen. Sie erkannten, dass sogar ihre eigenen ungetrübten Gedanken ihre Schutzengel sein konnten, die nicht irgendwelches Unheil herbeizuführen suchten, sondern stattdessen die Freude an der Schöpfung mit sich bringen würden.

Botschaft des Märchens

Valentinus will uns zeigen, dass uns die gesamte Schöpfung dienen möchte – nicht aus Unterwürfigkeit, sondern aus Liebe und Verbundenheit.
Doch wenn unser Verstand ständig analysiert und bewertet, trennen wir uns selbst von dieser  großen Wahrheit.

Wenn wir lernen, still zu werden und mit dem Herzen zu sehen, öffnet sich ein neues Bewusstsein. Wir erkennen, dass alles in der Welt miteinander verbunden ist und dass wir in dieser Verbundenheit immer beschützt und getragen werden.

Nicht zu vergessen: jeder von uns kann für den anderen ein Schutzengel sein. Mit einem frohen Wort, einem anerkennenden Blick oder einem respektvollen Gruß, der keine bloße Höflichkeit darstellt, sondern dem eigenen Herzen entspringt.

Lernen macht Spaß

König Valentinus saß an jenem sonnigen Mittag auf der uralten, an all ihren Ecken sorgsam abgerundeten Holzbank, die einst kunstvoll um den alten Dorfbrunnen gebaut worden war.
Dieser Brunnen barg das magische Geheimnis, eine bedeutsame Tiefe in die Gespräche derer bringen zu können, die sich dort einander anvertrauten.
Die alte Bank, die bereits seit Jahrhunderten von unzähligen Menschen genutzt wurde, war an vielen Stellen wie glatt poliert – ein Zeugnis, dass hier schon viele Menschen gesessen und Gespräche geführt hatten. Freud und Leid waren über die Jahre miteinander geteilt worden, immer im Vertrauen darauf, dass ein offenes Ohr und ein verständnisvolles Herz ganz nahe waren.

Valentinus liebte diesen Ort, denn er wusste, dass die Geschichten, die hier erzählt wurden, die wahre Essenz des Lebens widerspiegelten. Gerade, als er die wohltuende Kühle am Brunnen genoss, setzten sich ihm der Bub Michael und das Mädchen Lena gegenüber. Sie sahen neugierig aus – mit eben jenem kindlichen Drang, sich mitzuteilen, der ihm stets ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

Der Junge begann zu klagen: „In der Schule geht alles viel zu schnell. Ich komm‘ kaum noch mit! Der Lehrer hat mich in die letzte Bank gesetzt, weil ich die Aufgaben nicht so schnell lösen kann wie die anderen.“
Valentinus nickte nachdenklich. „Und wie fühlst du dich dort, in der letzten Bank?“, fragte er sanft.
„Einsam“, gab Michael zu. „Ich mag nicht mehr hingehen. Es ist, als ob ich gar nicht dazugehören würde!“

Das Mädchen Lena lachte leise und sagte: „Mir gefällt die Schule! Ich darf ganz vorne sitzen, direkt vor dem Katheder des Lehrers.
Ich höre und sehe alles, was der Herr Lehrer so sagt und macht. Ich habe so richtig Spaß!“
Der Junge sah sie ein wenig neidisch an, doch Valentinus hob die Hand, um die Balance zwischen den Beiden im Gespräch wiederherzustellen. „Lena“, fragte er mit einem warmen Lächeln, „was macht dir am meisten Freude beim Lernen?“
„Ich mag es, wenn der Lehrer uns Geschichten erzählt und erklärt, wie die Dinge funktionieren. Es ist, als ob ich eine neue Welt entdecken würde“, antwortete sie strahlend.

Valentinus wandte sich wieder dem Jungen zu. „Weißt du“, begann er, „manchmal ist es gar nicht schlecht, in der hintersten Bank zu sitzen.
Von dort aus siehst du Dinge, die die anderen vielleicht übersehen. Du hast den Überblick. Und das, was dir schwerfällt, kann mit der Zeit eine Stärke werden, wenn du Geduld mit dir selbst hast.“
Der Junge zog die Stirn kraus. „Aber wie soll ich etwas lernen, wenn ich immer hinten sein muss?“
„Vielleicht nicht durch Schnelligkeit, sondern durch Tiefe“, sagte Valentinus.
„Manchmal braucht es mehr Zeit, um etwas wirklich zu verstehen, aber dafür bleibt es dir für immer. Schau, jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus, genau wie bei einem Tanz. Manche tanzen schnell, andere langsam. Wichtig ist, dass du deinen eigenen Schritt und dein eigenes Tempo findest.“

Das Mädchen schaute Michael mitfühlend an. „Vielleicht können wir ja zusammen üben? Dann macht es mehr Spaß“, schlug sie vor.
Valentinus lächelte still. Die Kinder hatten die Antwort bereits in sich gefunden – sie mussten nur daran erinnert werden.

Und so blieb er noch eine Weile sitzen, lauschte ihren Plänen und ließ die Magie des Brunnens wirken, an dem seit jeher unzählige Geschichten zusammenflossen wie Wasser, das nie versiegt.

Valentinus lächelte die beiden Kinder warm an, bevor er sich erhob. „Bevor ich gehe, möchte ich euch noch etwas mitgeben – ein kleines Geschenk.
Es ist nur ein Wort, das viele Menschen fürchten, das aber in Wahrheit ein wahrer Schatz ist: es ist das Wort Fehler.“
Die Kinder sahen ihn überrascht an. Lena fragte: „Fehler? Aber Fehler sind doch etwas Schlechtes, oder nicht?“
Valentinus schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht.
Ein Fehler bedeutet nur, dass dir etwas fehlt.
Und genau das ist das Geschenk: Dieses Fehlen weckt in dir die Neugier und den Ansporn, zu suchen, zu lernen und schließlich zu finden. Jeder Fehler zeigt dir, wo du noch wachsen kannst, wo es noch mehr zu entdecken gibt.“
Michael runzelte die Stirn. „Also ist ein Fehler eigentlich wie ein Hinweis? So wie ein Schild auf einem Weg, das sagt: ‚Hier geht‘s weiter‛?“
„Ganz genau!“, rief Valentinus begeistert. „Ein Fehler ist kein Ende, sondern ein Anfang. Wenn du das erkennst, wirst du nie wieder Angst vor Fehlern haben. Stattdessen wirst du Fehler wie kleine Wegweiser sehen, die dir helfen, deinen eigenen Weg zu finden.
Ein Arzt fragt ja auch den Patienten: was fehlt dir?“

Lena nickte nachdenklich. „Das heißt also, wenn ich das nächste Mal einen Fehler mache, sollte ich nicht traurig sein, sondern mich fragen: ‚Was kann ich daraus lernen‛?“
„Ja genau, Lena“, sagte Valentinus mit einem Lächeln.
„Und weißt du, was passiert, wenn du so denkst?
Jeder Fehler wird zu einem Teil deiner Geschichte, zu einem Schritt auf deinem Weg. Und am Ende wirst du erkennen, dass dir eigentlich nichts wirklich fehlt – du hast alles, was du brauchst, in dir.“

Michael hob den Kopf und sagte leise: „Dann werde ich ab sofort keine Angst mehr vor der letzten Bank haben. Vielleicht ist das mein erster Schritt, etwas Neues zu entdecken.“
Valentinus legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn voller Zuversicht an.
„Das ist ein weiser Entschluss, mein Junge. Denk daran: Es ist nicht die Position, die zählt, sondern das, was du daraus machst.“

Valentinus nahm seinen Gehstock, drehte sich noch einmal zu den Kindern um. „Ich habe mich gefreut, euch besser kennenzulernen.
Ihr habt mir heute gezeigt, dass das Leben niemals aufhört, uns etwas zu lehren. Und vergesst nicht:
Fehler sind Geschenke, sie helfen uns, die Schätze in uns selbst zu finden.“

Mit diesen Worten wandte sich Valentinus dem Weg zu, der zurück zu seinem Schloss führte. Die Kinder blieben eine Weile still am Brunnen sitzen, nachdenklich und doch voller neuer Hoffnung. Lena lächelte schließlich und sagte: „Ich glaube, ich mag Fehler jetzt ein bisschen mehr.“ Michael nickte im vollen Einverständnis.
„Vielleicht können wir zusammen suchen und lernen – und dabei unsere eigenen Schätze finden.“

Valentinus war schon einige Schritte gegangen und fragte, ob er ihnen noch ein weiteres Wort ans Herz legen dürfe. Die beiden Kinder lächelten, und so begann er über das englische Wort „to learn“ zu erzählen.

„Wisst ihr, was Wort ‚learn‛ bedeutet? Ja, ‚lernen‛, aber es enthält noch ein weiteres gewaltiges Geheimnis.
Wenn ihr die Buchstaben genauer betrachtet, entdeckt ihr etwas Besonderes. Lasst uns das Wort einmal auseinandernehmen.“
Er schrieb mit einem Stock das Wort ‚LEARN‛ in den Sand. „Der erste Buchstabe, das L, steht für Liebe an dem, was wir tun.
Wenn du mit Liebe lernst, öffnen sich dein Geist und dein Herz. Das Lernen wird leicht und geschieht voller Freude.“

Dann zeigte er auf die verbleibenden Buchstaben. „Und was bleibt vom Geschenk noch immer übrig, wenn wir das L entfernen?“
Lena antwortete eifrig: „E-A-R-N! Das heißt ja dann ‚verdienen‛!“
„Richtig!“, sagte Valentinus begeistert.

„Wenn du mit Liebe lernst, erarbeitest du dir mehr als nur Wissen. Du verdienst Erfahrung, Freude und die Fähigkeit, das Gelernte in deinem Leben anzuwenden. Lernen mit Liebe bringt dir also einen doppelten Gewinn.“

Michael fragte neugierig: „Und was bedeutet das E am Anfang von ‚EARN‛?“
Valentinus nickte. „Das E steht für ‚experience‛ – Erfahrung.
Denn wahres Lernen geschieht nicht nur in Büchern oder durch Zuhören. Es ergibt sich durch das Leben selbst. Jede Erfahrung, jede Begegnung ist eine Gelegenheit, etwas zu lernen und zu wachsen. Mit wachsen meine ich, dass unser Bewusstsein sich erweitert.“

Er hielt kurz inne und fügte hinzu: „Wenn wir lernen, nicht nur mit dem Kopf, sondern vielmehr mit dem Herzen und aus unseren Erfahrungen, dann gewinnen wir etwas, das uns niemand mehr nehmen kann. Und wenn wir das Gelernte weitergeben, wird dieser Gewinn immer größer – für uns und für andere.“

Lena überlegte kurz und sagte dann: „Also bedeutet ‚learn‛, dass man nicht nur für sich selbst lernt, sondern auch, um damit anderen zu helfen?“
Valentinus war stolz auf Lena und das, was sie soeben gesagt hatte. „Ja, Lena. Genau das ist die wahre Bedeutung des Lernens. Es geht nicht nur darum, etwas zu wissen, sondern darum, etwas zu sein – für dich selbst und für die Welt. Und wenn du das verstehst, wird jedes Lernen zu einem Geschenk, das du immer wieder neu auspacken kannst.“

Die beiden Kinder nickten, sichtlich beeindruckt von dieser simplen, aber tiefen Wahrheit, die ihnen Valentinus anhand von einfachen Beispielen erklärt hatte.

Er verteilte mit seinen Schuhen Sand über das Geschriebene und die Worte waren wieder verschwunden.
Dann meinte Valentinus: „Ihr werdet andere Worte finden, die ebenso euer Interesse wecken werden.“
Er klopfte den Sand von seinem Stiefel und sagte abschließend: „Denkt daran: Lernen mit Liebe bringt euch das größte Geschenk des Lebens – die Freude zu wachsen und Andere mit eurem Wissen zu bereichern.“

Und so endete dieser Tag für alle Beteiligten mit unzähligen Geschenken, die schon immer da gewesen waren, jedoch nur nicht gesehen werden konnten.

So lebten die Gedanken von Valentinus weiter in den Herzen der Kinder, wie lebende Samen, die irgendwann ihre schönsten Blüten tragen würden.

Alchemie – ein magisches Geheimnis

Das Märchen von den Furchtlosen Herzen

Es war einmal ein kleines Dorf am Fuße eines großen Berges. In diesem Dorf lebte eine Gruppe besonderer Menschen, die die anderen Dorfbewohner „Die Furchtlosen Herzen“ nannten. Sie waren anders als die meisten Menschen, denn sie hatten keine Angst vor dem Tod. Ihr Leben war erfüllt von einer tiefen Suche nach etwas Unsichtbarem und Kostbarem – dem Licht der Wahrheit.

Eines Tages saß ein kleiner Junge namens Luis mit seinem Großvater unter dem alten Baum vor seinem Elternhaus. Luis hatte viel über die Furchtlosen Herzen gehört, die sich regelmäßig im alten Schlossturm bei König Valentinus trafen und oftmals intensive, geheimnisvolle Gespräche über die menschlichen Gedanken führten, dann wiederum stundenlang in tiefes Schweigen verfielen. Luis war neugierig. „Großvater“, fragte er, „warum nennt man diese geheimnisvollen Menschen die Furchtlosen Herzen? Was macht sie so besonders?“

Der Großvater lächelte und begann zu erzählen: „Die Furchtlosen Herzen sind Menschen, die fest daran glauben, dass in jedem von uns ein besonderes Licht lebt. Es ist unsichtbar, aber es ist das, was uns wirklich lebendig macht.

Dieses Licht ist stärker als unser Körper, stärker sogar als der Tod. Deshalb haben sie keine Angst davor, irgendwann, wenn ihre Zeit gekommen ist, ihren Körper zu verlieren – denn sie wissen, dass ihr Licht niemals erlischt.“
„Aber wie finden sie dieses Licht?“, fragte  Luis neugierig.
„Das ist nicht leicht“, sagte der Großvater. „Sie verbringen viele Stunden ihres Lebens damit, nach innen zu schauen und zu lauschen.
Sie folgen nicht nur ihren Gedanken oder ihren Augen, sondern hören auf ihr Herz. Manchmal müssen sie schwere Entscheidungen treffen, um ihrem Licht treu zu bleiben.  Das macht sie so mutig.“

Luis dachte eine Weile nach.
„Haben sie nie Angst?Nicht einmal ein bisschen?“
Der Großvater lächelte. „Natürlich haben sie auch Angst. Aber sie lassen sich davon nicht aufhalten. Sie wissen, dass ihre Angst nur eine Prüfung ist, die sie stärker macht. Und wenn sie ihr Licht finden, werden sie mutiger und friedlicher als man sich vorstellen kann.“

Eines Tages, als  Luis im Dorf spazieren ging, traf er einen dieser Furchtlosen Herzen. Es war ein alter Mann mit einem sanften Lächeln und klaren Augen, die tief in Luis’ Seele zu blicken schienen.

Luis fasste all seinen Mut zusammen und fragte:
„Warum, guter Mann, habt ihr keine Angst vor dem Tod?“
Der Mann antwortete mit einer ruhigen Stimme:
„Weil der Tod nicht das Ende ist, junger Freund.
Er ist nur ein Tor, durch das wir gehen, um noch näher bei unserem Licht zu sein. Solange ich mein Licht in mir spüre, weiß ich, dass ich niemals wirklich verloren bin.“
„Und wie fühlt sich dieses Licht an?“, fragte Luis leise.
Der Mann lächelte. „Es fühlt sich an wie Liebe. Es ist warm und stark, und es verbindet uns mit allem, was lebt – mit den Bäumen, den Sternen und sogar mit dir.“

Luis spürte eine seltsame Ruhe in seinem Herzen, als er diesen Worten lauschte. Von diesem Tag an wollte er selbst herausfinden, ob auch in ihm ein solches Licht brannte. Er begann, leise in sich hineinzuhorchen, besonders abends, wenn die Sterne am Himmel funkelten.

Am nächsten tag traf er den alten Mann wieder und fragte :
„Was ist Alchemie und was machen Alchemisten so Geheimnisvolles?“

Der alte Mann antwortete: „Wir nennen es Alchemie – eine alte Kunst, die die Menschen seit langer Zeit fasziniert. Alchemisten versuchen, irgendetwas, das sie und auch alle anderen Menschen haben, in etwas noch Wertvolleres zu verwandeln. Das kann beispielsweise ein Stück giftiges Blei sein, das sie glauben in Gold verwandeln zu können.
Doch ihre gewählten Worte sind nur symbolisch für tiefergehende Geheimnisse. Es kann sogar ihr eigenes Herz sein, das sie zum Leuchten bringen wollen, wie Gold. Sie glauben, das das Besondere an ihnen ist.
Sie glauben fest daran, dass wir uns selbst besser, stärker und weiser machen können, wenn wir lernen, wie wir mit unseren Gedanken und Gefühlen umgehen können …

Das Blei ist symbolisch für unsere Gedanken, die uns so sehr belasten und unser Gemüt und unsere gute Laune vergiften können.
Es wird aber buchstäblich nur dann zu Gold, wenn wir unsere Gedanken überprüfen und sie in erfreuliche Gedanken verwandeln.
Das ist dann die Kunst und das Geheimnis von Alchemie, die wir betreiben, Luis.“

„Was ist an der Alchemie wichtig?“, wollte  Luis nun genau wissen.
„Die Alchemie sagt uns: Alles hat die Möglichkeit, sich zu verwandeln. So wie ein Samen zu einem großen Baum wachsen kann, können auch wir wachsen.

Vielleicht fühlst du dich manchmal klein oder unsicher, aber die Alchemie zeigt, dass in dir ein Schatz steckt, den du entdecken kannst.
Stell dir vor, du hast eine Schatzkiste, die leer aussieht, aber wenn du genau hinschaust, findest du darin alles, was du brauchst, um etwas Wundervolles zu erschaffen. Genau das ist Alchemie – eine alte Kunst, die die Menschen seit langer Zeit fasziniert.

Ein einfaches Beispiel:
Stell dir vor, du hast einen alten Stein gefunden. Auf den ersten Blick sieht er langweilig aus. Aber wenn du ihn polierst, wird er glänzen und wunderschön sein.
Das Gleiche kannst du mit deinen Gedanken und Gefühlen tun.

Wenn du aus traurigen oder schwierigen Momenten etwas lernst, machst du sie zu einem Teil deines inneren Schatzes – wie ein Alchemist, der aus einem einfachen Stein etwas Wertvolles macht.

Einfachheit drückt sich aus und wird edel, wenn wir erkennen, dass alles Eins ist und miteinander verbunden.

Die Alchemie der Herzen fügte der alte Mann noch hinzu:
Die wahre Alchemie, das wissen alle Alchemisten, passiert in unseren Herzen. Wenn du zum Beispiel wütend bist und diese Wut in Verständnis oder Freundlichkeit verwandelst, bist du eine junger Alchemist .

Du machst aus etwas Schwerem etwas Goldenes, Leuchtendes und Helles, das leichter zu tragen ist als etwas Dunkles. Das ist dir doch klar, oder nicht?

So leuchten die Furchtlosen Herzen seit jeher wie Sterne am Himmel, die niemals verglühen. Und ihre Geschichten, ihre Liebe und ihr Mut leben für immer weiter in den Herzen derer, die ihnen begegnen.“

„Aber was ist das wunderbare und Schöne an der Alchemie?“, wollte Luis noch wissen.
„Das Geheimnis der Alchemie“, sagte der alte Mann mit geduldiger Stimme, „ist, dass sie uns zeigt, dass nichts in unserem Leben umsonst ist. Selbst schwierige Zeiten oder Fehler können uns helfen, zu wachsen und stärker zu werden. Es ist, als ob alles – wirklich alles – einen Zauber in sich trägt, wenn wir bereit sind, ihn zu entdecken.

Die ersten Alchemisten dachten, dass sie aus ganz gewöhnlichen Dingen wie Blei Gold machen könnten, doch sie hatten die alten Schriften ihrer Vorfahren falsch interpretiert, also völlig missverstanden .
Aber weißt du was? Es ging nicht darum, Gold zu erschaffen.
Es war mehr wie ein Zauber und die Kraft des universellen Bewusstseins, der die Welt und auch die Menschen selbst verwandeln sollte.

Also, kleiner Alchemist, erinnere dich: Die Magie der Alchemie liegt in dir.

Du kannst die Welt um dich herum und auch dich selbst immer ein bisschen schöner machen – Schritt für Schritt, wie ein echter Zauberer.“

ENDE GUT, ALLES GUT